BERLIN - "Das Foto wurde 1937 aufgenommen. Es zeigt meine Eltern und meine drei Schwestern: Hanna, die Älteste, dann Fanny, die Mittlere und Jenny, die Jüngste. Ganz rechts, neben dem Vater, steht der kleine Bub, der ich damals war." Nathan Durst lächelt. Aus dem Siebenjährigen ist ein Mann über Siebzig geworden. Seine Schwestern wären heute in hohem Alter. Aber Fanny, Jenny und die Eltern haben nicht überlebt.
Wann immer Nathan Durst nach Berlin kommt, sucht er die Spuren, die von damals geblieben sind. "Wir haben in der Linienstrasse gewohnt, im Bezirk Mitte. Eine orthodoxe Familie. Alle Kinder gingen auf jüdische Schulen. Der Vater arbeitete als Grossier für Textilien, die Mutter war die Hüterin unserer kleinen Leben. Ich war acht im Oktober 1938, als dies alles zerbrach.
Der Vater wurde verhaftet, die Synagoge brannte ganz in der Nähe...aber das sind Bilder von heute. Woran ich mich erinnere, ist unsere Flucht. Die Mutter sagte zu Hanna, die damals 17 war, sie solle mit mir über die Grenze gehen, irgendwo hin, nach England oder in die USA. Also fuhren wir mit dem Zug nach Köln und hatten kaum mehr als die Fahrkarten dabei. Es dauerte drei Tage, bis wir auf Umwegen die Sperren erreichten. Es war Winter. An der Grenze zu Holland standen deutsche Soldaten. Hanna bückte sich in den Schnee und begann ein Spiel mit mir. Sie täuschte eine Schneeballschlacht vor. Wir bewarfen uns lachend und wechselten so auf die andere Seite - ein harmloses Geschwisterpaar.
Im Februar 1939 flohen auch Fanny und Jenny über die Grenze. Sie waren 16 und 13, als sie in einem kleinen holländischen Dorf Geld tauschen wollten. Jemand verriet sie. Sie wurden ausgeliefert, zurück nach Berlin, zurück in die Falle der NS-Verfolgung. Fanny und Jenny konnten noch drei Jahre überleben, zuerst in Lodz, wohin sie die 'Reichsbahn' deportierte. 1942 ging der Zug nach Auschwitz.
Von meinen kleinen Schwestern und meinen Eltern habe ich niemals wieder gehört.
1946 schickten mir Verwandte dieses Foto. 'Ja, so sahen wir aus', sagte ich, und merkte erst jetzt, daß ich von etwas Unwiederbringlichem sprach: von Fanny und Jenny und von dieser Familie, die es nicht mehr gab."